November 24th, 2025

Mehr Utopie wagen

v.l.n.r.: BIRD Members Michelle Christensen, Marc Pfaff, Wolfgang Jonas und Tom Bieling eröffnen die Konferenz.

Die diesjährige NERD-Konferenz unter dem Titel „7th Heaven“, veranstaltet vom BIRD in Kooperation mit New Practice, widmete sich unter anderem der Frage, wie Designforschung die Grenzen zwischen Wissen, Wahrnehmung und Gestaltung erweitert. Schon der erste Tag zeigte, dass der Entwurf als erkenntnisleitende, situative und politische Praxis – den roten Faden durch viele der vorgestellten Beiträge bildete.

David Normington etwa eröffnete mit seinem Projekt “Real, False-World” in dem er erforscht, wie generative KI zwischen Wahrheit, Fiktion und Designvision vermittelt. Er nutzt KI-Bilder als Werkzeuge eines spekulativen Worldbuildings, das nicht einfach neue Realitäten erfindet, sondern die Beziehung zwischen Imagination und Wirklichkeit reflektiert. KI wird hier zum Instrument kritischer Vorstellungskraft und zur Methode, alternative Zukünfte denkbar zu machen.

Brian Morgan stellte ein partizipatives Micro Democrady Modellprojekt auf Rathlin Island vor, einer kleinen Insel vor der Nordküste Nordirlands. Dort wird Politik nicht nur geplant, sondern entworfen – als ein fortlaufendes, interdisziplinäres Experiment, in dem grüne Politik, soziale Infrastruktur, Biodiversität und nachhaltiger Tourismus miteinander verschränkt sind. Morgans Ansatz versteht Demokratie als gestaltbaren Prozess, bei dem das fortwährende Justieren und Anpassen Teil des Systems selbst ist. Politik wird so zu einem aktiven, kollektiven Machen – situativ, offen und veränderlich.

Einen anderen Zugang wählte Isabella Brandalise, die in ihrer Forschung untersucht, wie Design innerhalb institutioneller Strukturen operiert und diese zugleich transformieren kann. Aufbauend auf Liesbeth Huybrichts’ Konzept des Institutioning entwickelt sie das Modell des Patainstitutioning, angelehnt an Alfred Jarrys „Wissenschaft der imaginären Lösungen“. Durch gezielte Desorientierungen und humorvolle Interventionen legt Brandalise die alltägliche Politik von Objekten und Gesten frei, die institutionelle Machtverhältnisse stützen. Ihre Arbeit versteht sich als spielerisch-kritische Praxis von innen heraus – eine Form institutioneller Reflexion, in der Gestaltung zugleich Analyse und Veränderung ist.

Simone Fehlinger widmet sich in ihrer Arbeit den Darstellungsformen von Wetterberichten im Fernsehen und betrachtet die ökologische Krise als materiell-diskursives Artefakt. Ihre These: Die konventionellen Visualisierungen des Wetters reproduzieren eine moderne Trennung zwischen Mensch und Natur und tragen so unbewusst zur Klimakrise bei. Mithilfe von Chroma-Key-Compositing experimentiert sie mit alternativen Darstellungsweisen, um neue Beziehungen zur Umwelt erfahrbar zu machen – eine Forschung, die nicht nur analysiert, sondern Gegenbilder entwirft.

Kollektiver Austausch auf der NERD 7th Heaven.

Das Berliner Multispecies Research Cluster (UdK/TU Berlin) erweitert diesen Diskurs um nicht-menschliche Perspektiven. In der Auseinandersetzung mit Ameisen und algorithmischen Agenten untersucht das Kollektiv die ethischen, ökologischen und technischen Verflechtungen zwischen Menschen und anderen Spezies. Durch experimentelle Designmethoden wird hier erforscht, wie sich multispezies Gerechtigkeit gestalten lässt und wie posthumanistische Ansätze neue Formen des Zusammenlebens ermöglichen können.

Am zweiten Tag stand die Auseinandersetzung mit Materialität, Ästhetik und emergentem Denken im Zentrum. Marjan Colletti präsentierte sein Projekt zum Postdigital Neobaroque, in dem er auf Theorien von Wölfflin und Calabrese aufbaut. Für Colletti ist das Postdigitale keine Abkehr, sondern eine Weiterentwicklung des Digitalen – eine Haltung, die historische und zeitgenössische Ästhetiken produktiv verschränkt. Sein Ansatz zeigt, wie ein „neobarocker“ Denkstil Innovation gerade dadurch ermöglicht, dass er Vergangenheit und Gegenwart kritisch miteinander verknüpft.

Ebenfalls mit generativen Prozessen befasst sich Lars Pinkwart, der die antizipative Logik generativer Weltmodelle untersucht. Er beschreibt Gestaltung als dynamische, prozesshafte Praxis, die sich durch Anpassungsfähigkeit und emergente Konsistenz auszeichnet. Entwerfen bedeutet hier, auf Situationen zu reagieren und sich im Tun zu verändern – ein Denken in Bewegung, das sich in Echtzeit vollzieht.

Fabiana Marotta und Lorenzo Esposito wiederum wenden sich dem Körper zu. In ihrem Projekt Grasping Knowledge erforschen sie, wie Wissen durch haptische Interaktion entsteht. Sie entwickeln eigene, nicht-funktionale Objekte – taktile Versuchsanordnungen, die einladen, ohne klare Anweisung zu geben. Durch Drücken, Greifen oder Verformen hinterlässt der Körper Spuren, die dokumentiert und analysiert werden, um zu verstehen, wie Gesten Wissen hervorbringen. Greifen wird so als Erkenntnisform begriffen – als Denken mit den Händen, als körperliche Intelligenz des Machens.

Felix Kosok verband in seinem Beitrag Designforschung mit Politikwissenschaft, um demokratische Innovation als gestaltende Praxis zu verstehen. Er untersucht, wie sich demokratische Prozesse nicht nur denken, sondern entwerfen und materiell verankern lassen. Design wird dabei zu einem Werkzeug politischer Teilhabe, das institutionelle Formen und Verfahren ständig neu erfindet – mit dem Ziel, die Legitimität und Handlungsfähigkeit demokratischer Systeme zu stärken.


Felix Kosok zu den Querverlinkungen …


… von Design(theorie) und Politik(Wissenschaften).

Ana Belén Palacios rekonstruiert in ihrer Arbeit Alltagspraktiken ecuadorianischer Frauen und sie mit feministischen Perspektiven auf postkoloniale Designgeschichte zu verknüpfen. Ihr Ansatz stellt das aktive Gestalten mit Erinnerungen und Erzählungen in den Mittelpunkt – ein Prozess, in dem Gestaltung zu einem Medium kollektiver Erinnerung und kultureller Selbstermächtigung wird.

So zeigte die NERD-Konferenz „7th Sense“ eindrucksvoll, dass zeitgenössische Designforschung nicht mehr nur das Entwerfen von Formen bedeutet, sondern das Erforschen, Verhandeln und Gestalten von Beziehungen – zwischen Menschen, Maschinen, Institutionen und Ökosystemen. BIRD und New Practice ist es gelungen, einen Raum zu schaffen, in dem Denken und Machen untrennbar miteinander verbunden sind: Forschung als Praxis, Praxis als Erkenntnis – und Gestaltung als offener Prozess.

Kristopoane kritisierte in ihrem Vortrag die sprachliche Unschärfe und den Missbrauch von Begriffen wie „Empathie“ oder „User-Centeredness“ im Design, die oft mehr Schein als Bedeutung erzeugen. Sie argumentiert, dass die englischsprachige Designsprache besonders anfällig für solche inhaltsleeren Floskeln ist und dadurch ein verzerrtes Bild der Disziplin entsteht. In “Omitted Needless Words” untersucht sie, wie Sprache im Designkontext Wahrheiten verschleiern kann, und fordert eine sprachliche wie kulturelle Neubewertung. Dazu schlägt sie vor, Design stärker in regionalen und nicht-anglozentrischen Kontexten zu verankern, um authentischere Ausdrucksformen zu finden. Im Vortrag ging es schließlich auch darum, unnötige Wörter zu „weglassen“ und Wege zu einer ehrlicheren, sprachlich bewussteren Designpraxis aufzuzeigen.

Im 20. Jubiläumsjahr des BIRD schien diese 7. Konferenz in besonderer Weise gelungen. Die Atmosphäre, das Setting und das konstruktive Beisammensein prägten zwei inspirierende Tage. Zwei Highlights stachen dabei aus BIRD sicht hervor: Zum einen die Vorstellung der jüngsten BIRD-Publikationen – Band 30 NERD III und Band 31 Nutzen statt Besitzen – Michael Erlhoff revisited. Vor gut einem Jahr hatte sich das BIRD vorgenommen, das Buch des BIRD-Gründers Michael Erlhoff dreißig Jahre nach seinem Erscheinen (1995) in einer durch zwanzig Beiträge erweiterten Neuauflage herauszugeben. Das erklärte Ziel war, die Veröffentlichung rechtzeitig zur NERD-Konferenz fertigzustellen, um sie dort – im Rahmen des doppelten Jubiläums – präsentieren zu können. Und tatsächlich: Etwa eine Stunde bevor der Book Launch am Abend des ersten Konferenztages begann, traf das Buch druckfrisch per Verlagskurier ein. Ein schönes und passendes Symbol – und eines von vielen weiteren Highlights dieser beiden Tage.

	Just in Time Production: BIRD Band 31: Nutzen statt Besitzen – Michael Erlhoff Revisited

References