April 22nd, 2024

Un/Certain Futures – Rollen des Designs in gesellschaftlichen Transformationsprozessen

Buchbesprechung

„Un/Certain Futures“, erschienen bei Transcript (2018), herausgegeben von Marius Förster, Saskia Herbert, Mona Hofmann und Wolfgang Jonas, ist ein Sammelwerk, welches einen multidisziplinären Ausblick in kontingente Zukünfte gibt und diskutiert wie transformative Prozesse entstehen, umgesetzt und eingeordnet werden. Auf 272 Seiten kommen, neben den Herausgeber:innen, 22 unterschiedliche Autor:innen aus verschiedenen Netzwerken rund um Theorie und Praxis zu Wort.

Zum Inhalt

Zu Beginn des Buches wird eine Definition des Designbegriffes vorangestellt. Dieser ist eng verwoben mit dem zentral diskutierten Thema des Sammelwerks: der Rolle des Designs in Bezug auf die Zukunft. Die sogenannten transformativen Prozesse und Aspekte sind hierbei von großer Bedeutung, so die Herausgeber:innen, denn sie stellen sich allen Gestaltungs-fragen voran. Die Quintessenz beim Umgang mit Transformationsprozessen und der Zukunft sei, sich bewusst zu machen, dass wir, trotz aller Prognoseversuche, nicht wissen können, was passieren wird. Daher sollte jedem Entwurf das Wissen und die Demut innewohnen, immer nur im Kontext bestehender Systeme entworfen worden zu sein und aus diesem Grund in der Zukunft neue, andere, bis dato womöglich unbekannte Probleme aufzuwerfen. Der Einleitung folgen sehr unterschiedliche Beiträge verschiedener Autor:in-nen. Die Qualität der einzelnen Beiträge, sowie das breite Themenspektrum ermöglichen den Lesenden mehrere Anknüpfungspunkte auf der Verständnis- und Interessensebene. Die Positionen der Beiträge reichen von der Theorie über die Praxis bis hin zur Forschung sowie der Anwendungs-beschreibung zweier Workshops. Das Buch verfügt somit über die gesamte Länge über einen Spannungsbogen, welcher zusätzlich aufrecht-erhalten wird, indem nach jedem Autorenbeitrag Fotografiearbeiten gezeigt werden, die im hinteren Teil des Buches um entsprechende Informationen ergänzt werden. Ganz im Sinne der Kontingenz des Themas soll die Struktur des Sammelwerks nicht als chronologisch, logisch und in sich geschlossen, sondern vielmehr als assoziativ und rhizomatisch wahrgenommen und verstanden werden.

Aufbau und Stil

Der inhaltliche Aufbau bringt durch die unterschiedlichen Beiträge und Schreibstile eine Dynamik und Abwechslung in das Buch, die das Interesse am Lesen aufrecht zu erhalten vermag. Gleichzeitig fühlt man sich als Leser:in nicht verloren, sondern an den richtigen Stellen abgeholt, da durch den Prolog und Epilog, sowie die vorangestellten Definitionen ein Rahmen vorgegeben wird. Dieser erleichtert es, das Kernstück des Sammelwerks als einen Freiraum zu erleben, indem die Beiträge in eigener Reihenfolge gelesen und erkundet werden können. Hilfreich hierfür ist, dass das Inhaltsverzeichnis durch eine kurze Zusammenfassung der jeweiligen Texte ergänzt ist, sodass man schnell einen Überblick erhält. Die Beiträge sind auf englisch oder deutsch verfasst, manchmal sehr strukturiert und klar formuliert, teilweise prozessartig und offen.

Beiträge

Der inzwischen verstorbene Designtheoretiker Michael Erlhoff spricht in seinem Beitrag „Between File and Life“ über das Paradoxon des Menschen frei zu sein, dabei aber nicht die Sicherheit verlieren zu wollen. Auf der Suche nach dieser Freiheit schafft der Mensch sich mehr und mehr Regeln und Einschränkungen. Er tut alles, um sich vor dem Unwissenden, Ungewissen zu schützen und entwickelt deshalb Strategien, wie Algorithmen, Wissenschaften und Narrative/Geschichten wie Religion, Ideologien usw., die alles Offene kalkulierbar und kontrollierbar machen (sollen). Nach Erlhoff beweist sich hieran, dass der Drang nach empirischer Sicherheit größer sei als die Sehnsucht nach einem freien Traum. Des Weiteren sollten wir lernen zu verstehen, dass gerade die Fehler und Missverständnisse der Antriebsmotor für Entwicklung und Neuerung sind. Erlhoff fordert dazu auf, uns bewusst zu machen, dass der Großteil von allem nicht wirklich erklärbar, sondern vage ist. Dies soll uns daran erinnern, dass wir weitaus entfernter von den Antworten und Lösungen leben, als es uns, durch unser persistentes Antizipieren und Berechnen, erscheinen mag. Erlhoffs auf englisch verfasste Position hat philosophische Züge, bleibt dabei stets eingängig, da sie mit konkreten Beispielen aus der Geschichte belegt wird. Der Bezug zum Transformation Design wird plausibel argumentiert.

Thomas Christa Malory Beitrag „Wirklichkeitsperforationen – Wege angewandter künstlerischer Zukunftsforschung“ beschreibt auf einer konzeptionellen Ebene, wie die Kunst ihren Teil zur großen Transformation leistet. Durch das Anstoßen von Prozessen – nicht die Herstellung von Werken – entsteht die Energetisierung und Intensivierung der Wirklichkeit. Man spricht ebenso vom Aufbruch der performativen Wende hin zu einer prozesshaften Ereignisästhetik. Im Text werden zwei Begriffe besonders herausgestellt, da sie zur Verdeutlichung der sozialen Wirklichkeit dienen: ‚der Pfad der Wirklichkeit’ und ‚die Perforationspfeile’. Die Pfade der Industrie, Technologie, Kultur und Richtlinien seien voneinander abhängig und stehen in Systemen zueinander. Die Gestaltungsmöglichkeiten sind anhand dieser Pfadabhängigkeit determiniert und bilden den „Korridor der Alternativlosigkeit“. Die Aufgabe der Kunst sei es, wie Perforationspfeile zu arbeiten, die dazu dienen die Pfade der Wirklichkeit zu stören, indem sie an diese andocken, sie durchstoßen und für Verunsicherung sorgen. Wichtige Aspekte dieser künstlerischen Arbeit (Wirklichkeitsperforation) sind: Ergebnisoffenheit, d.h. kein fixes Ziel zu erarbeiten, sondern eine Suche zu betreiben, sowie diejenigen teilnehmen zu lassen, die nicht schon Teil des etablierten Kunstsystems sind. Ein weiterer Punkt ist die spielerisch-ästhetische Praktik, die ermöglicht Gegebenes zu überwinden und Räume gesellschaftlicher Veränderungsprozesse zu schaffen. Nur das Spielen schafft die Ungezwungenheit, etwas noch nicht Existierendes zu erproben.
Der auf deutsch verfasste Beitrag von Thomas Christa Malory ist wesentlich länger geschrieben, da er wegen seiner soziologischen und systematischen Herleitung einer anderen Ausführlichkeit bedarf. Neben dem Erklärungsmodell für die Wirklichkeit wird vor allem von der künstlerischen Arbeit gesprochen. Als Leser:in ist man an dieser Stelle selbst gefragt, den Transferteil zu leisten, inwiefern sich Parallelen zum Design ziehen lassen.

Zuletzt wird Isabel Finkenbergers Bericht vorgestellt. Dieser beschreibt den Workshop und das Projekt „Stadt sehen“ zwischen der Stadt und dem Schauspiel Köln. Hintergrund hierfür ist die Fragestellung, wie wir in Zukunft leben wollen und welche Stadt wir dafür brauchen. In partizipativen Work-shops und der „bottom up“-Methode wird mit den Stadtteilbewohner:innen Mühlheims, Künstler:innen und Planer:innen etc. erarbeitet, wie diese das Stadtviertel sehen und erleben. Anhand der Beobachtungen und Wünsche ergibt sich ein Bild der möglichen Zukunftsszenarien. Aus dem erarbeiteten Material der Workshops entsteht dann durch das Schauspiel Köln ein mehrtägiges Theaterfestival, das die Ergebnisse wiedergibt. Vor allem das Theater habe die Fähigkeit, durch das atmosphärische Aufladen und Erleben von Situationen, zu zeigen, wie Stadtentwicklung funktioniert, auch ohne konkrete räumliche Veränderung. Ziel des Projekts ist es, die Menschen dazu zu bringen, Dinge zu vermissen, von denen sie vorher nicht wussten, dass diese möglich sind. Die Auseinandersetzung schafft somit ein Gefühl dafür, was in zukünftigen Prozessen nicht fehlen darf.

Ganz anders, als die beiden vorherigen Beiträge, wird hier ein konkretes Praxisprojekt vorgestellt. Dementsprechend ist der Schreibstil lockerer, der Text ist chronologisch gegliedert und erzählt berichtartig, wie beim Projekt und Workshop vorgegangen worden ist. Aufschlussreich ist es insbesondere deshalb, von einem Praxisprojekt zu erfahren, da man so die zuvor gelesene Theorie anderer Beiträge daran gedanklich anwenden und prüfen kann. Somit geht der Gedanke der rhizom- und netzartigen Verknüpfung und Ergänzung der Texte untereinander auf.

Weitere Beiträge stammen u.a. von Alain Findeli („The Metamorphosis of the Designer: A Prequisite to Social Transformation by Design“), Bernd Sommer („Die Zukunft beginnt jetzt ?! Klima- und Gesellschaftswandel im Spannungsverhältnis von Kontingenz und Pfadabhängigkeit“), Niko Paech („Transformation aus Sicht der Postwachstumsökonomik“), Fatma Korkut („People, Flags, Brigdes – Transformation through Resistance“), David Oswald („Dialektik des Größenwahns. Design als Change Agent – Über das Verhältnis von Design zu Politik und Wirtschaft“), Jesko Fezer („Parteiisches Design“), Ulrike Bergermann („Crusing/Queer/Afrofuturism – Time for another Kin-ship“), Stefan Wolf („Slow Mobility – Mobilität neu denken. Zur Trans-formation des Verkehrs“) oder Rolf Nohr („Die Austreibung der Unsicherheit. Business Gaming“).

Fazit

Der Sammelband mag an einigen Stellen nicht besonders in die Tiefe gehen, an anderen Stellen dafür umso mehr in die Breite. Dieser Facettenreichtum gibt den zeitgenössischen, multidisziplinären Diskurs nachvollziehbar wieder. Über die Texte gewinnt man erste Eindrücke über die jeweiligen Arbeiten und Themen der Autor:innen und kann diese, bei Interesse entsprechend weiterverfolgen. An der ein oder anderen Stelle wünscht man sich, da es zumindest im Titel so Anklang findet, ein dezidierteres Eingehen auf die „Disziplin“ des Designs. Die Arbeiten befassen sich zwar mit den transformativen, prozessartigen und zukunftsoffenen Arbeitsweisen und bekunden, dass das Nicht-Produkt systemübergreifend wirkt. Dennoch sind viele Designer:innen mit der Herstellung von Produkten konfrontiert und müssen auch hierzu Antworten und Lösungsansätze im Umgang mit den zu erwartbaren oder nicht erwartbaren Zukünften liefern.

Marius Förster / Saskia Hebert /
Mona Hofmann / Wolfgang Jonas (Hg.)
Un/Certain Futures – Rollen des Designs in
gesellschaftlichen Transformationsprozessen

272 Seiten, transcript, 2018
ISBN: 978-3-8376-4332-9

References

Förster, Marius / Saskia Hebert / Mona Hofmann & Wolfgang Jonas (Hg.) (2018): Un/Certain Futures – Rollen des Designs in gesellschaftlichen Transformationsprozessen. Bielefeld: Transcript

Download & Citation Info

Schmelz, Anouk (2024): Un/Certain Futures – Rollen des Designs in gesellschaftlichen Transformationsprozessen. Buchbesprechung. DESIGNABILITIES Design Research Journal, (04) 2024. https://tinyurl.com/35r3tvwr ISSN 2511-6274