November 5th, 2025

Nutzen statt Besitzen – Michael Erlhoff Revisited

Als Michael Erlhoff 1995 sein programmatisches Buch „Nutzen statt Besitzen“ veröffentlichte, war dies ein Plädoyer für eine andere, vernünftigere Form des Wirtschaftens und Zusammenlebens – ökonomisch, ökologisch und sozial. Die Idee: Dinge müssen nicht uns gehören, um uns zu dienen; gemeinsames Nutzen kann reicher machen als privates Besitzen. Dreißig Jahre später ist vieles, was damals visionär klang, gelebte Realität geworden: Carsharing, Leihfahrräder, Co-Working, Streaming. Doch zugleich zeigt sich, dass das Ideal des Teilens längst selbst zum Geschäftsmodell geworden ist – mit all seinen Widersprüchen und Schattenseiten.

Dreißig Jahre nach Erscheinen des Originaltextes und im zwanzigsten Jahr seines Bestehens, wiederveröffentlicht das BIRD (Board of International Research in Design), dessen Mitgründer Erlhof war, den Text – nun eränzt durch zeitgenössische Positionen zum Thema. Zwanzig neue Essays von Autor:innen aus Design, Theorie, Kunst, Philosophie, Mobilitätsforschung und Kulturwissenschaft, die den zentralen Gedanken kritisch, differenziert und zukunftsorientiert weiterdenken. Kein nostalgischer Rückblick, sondern ein lebendiger, experimenteller Denkraum über die Frage, wie wir in einer globalisierten, digitalisierten Welt mit Dingen, Ressourcen und Wissen umgehen wollen.

Wolfgang Jonas, der die neue Ausgabe einleitet, beschreibt die Entwicklung präzise: Die Idee vom Nutzen statt Besitzen sei heute aktueller denn je, aber zugleich unendlich komplizierter. Sharing ist längst kein reines Gegenmodell zum Besitz mehr, sondern oft selbst ein Ausdruck konsumistischer Logik – unökologisch, unsozial und produktintensiv. Jonas schlägt vor, Erlhoffs Ansatz zu aktualisieren: kritisch gegenüber ökonomischen Verwertungsmechanismen, kontextualisiert in technologischen und gesellschaftlichen Umbrüchen, und mutig genug, neue Formen des Gemeinwohls, der Allmende und des immateriellen Besitzes zu denken.

Die Vielstimmigkeit der Beiträge ist dabei kein Zufall, sondern Ausdruck des Selbstverständnisses von BIRD als „undisziplinierter“ Forschungszusammenhang. Es begegnen sich Praxis, Theorie und Spekulation auf Augenhöhe. Die Essays argumentieren, erzählen, experimentieren, widersprechen einander – und gerade dadurch entsteht ein spannungsreicher Diskurs, der zeigt, dass die Frage „Nutzen oder Besitzen?“ heute weit über ökonomische oder ökologische Kategorien hinausgeht. Sie berührt unser Selbstverständnis als soziale, technische und politische Wesen.

Mit Beiträgen von Tom Bieling, Uta Brandes, Katharina Bredies, Rosan Chow, Michelle Christensen, Florian Conradi, Peter Eckart, Meret Ernst, Köbi Gantenbein, Simon Grand, Angela Grosso Ciponte, Harald Gründl, Saskia Hebert, Wolfgang Jonas, Simon Küffer, Eileen Mandir, Ralf Michel, Hans-Ulrich Reck, Stephan Rammler, Evelyne Roth, Erik Spiekermann, Peter Stephan, Kai Vöckler, Thomas Wagner, und Tina Weisser.

Buchvorstellung im Rahmen der Konferenz NERD 7th Heaven (New Experimental Research in Design) am 6. November (erster Konferenztag) um 17:45 Uhr an der TU Berlin, Alter Lesesaal / New Practice, Hauptgebäude, Straße des 17. Juni 135, 10623 Berlin. Unter Anwesenheit der Herausgeber:innen sowie einiger Autor:innen des Bandes.

Bieling, Tom / Brandes, Uta / Christensen, Michelle / Jonas, Wolfgang (Hrsg.) (2025): Nutzen statt Besitzen – Michael Erlhoff Revisited. Basel : Birkhäuser Verlag. 292 Seiten, 36 EUR, ISBN: 978-3-0356-3012-1

References