June 1st, 2022

Design und New Materialism

Der philosophische Begriff des Materialismus entstand im 18. Jahrhundert und ist als eine Strömung zu bezeichnen, in der Gott außen vorgelassen wird. Dabei wird die Materie als einzige Realität anerkannt. Materie bezieht sich beispielsweise darauf, wie Materialien aus ihren verschiedenen Komponenten physikalisch oder auch chemisch zusammengesetzt sind. VertreterInnen des Materialismus nahmen an, dass sich alle Vorgänge auf der Welt, sowie Gefühle, Gedanken und das menschliche Bewusstsein auf die Materie zurückführen lassen. In diesem unterscheidet sich der Materialismus von anderen Philosophien, bei denen die Materie immer vom menschlichen Bewusstsein aus betrachtet wird (Vgl. philosophie Magazin, o.J. / Hahn, 2011).

Durch das in den 1990er Jahren verstärkt auftretende Umweltbewusstsein, ausgelöst durch ökologische Krisen und den technischen Fortschritt, entstand der Begriff des Neuen Materialismus, bei dem die Wechselwirkung von Mensch zu Technologie, Natur und Umwelt im Fokus steht. Diese Strömung ist ein Rückbezug und eine Abgrenzung zu den vorherigen Materialismen und Naturwissenschaften. Die Gemeinsamkeiten des alten und neuen Materialismus liegen darin, dass laut den Vertretern, Subjekte (Gegenstände) nur eine Bedeutung erhalten, wenn diese in Aktion mit dem menschlichen Bewusstsein treten. Im neuen Materialismus wird die Materie nicht mehr als einfach zur Verfügung stehend betrachtet, sondern als ein Austausch von Materie, Energien und Dingen (Vgl. Goetzke/ Schwertel/ Geisler, 2021).

In den 1980er Jahren taucht erstmals der Begriff des material turn auf. Von einem sogenannten turn in den Sozial- und Kulturwissenschaften spricht man, wenn neue Perspektiven und Theorien durch fächerübergreifende Forschungen entstehen und die Grenzen zwischen den einzelnen Wissenschaften immer mehr miteinander in Berührung kommen. Von einem material turn ist also insofern die Rede, dass die Materialität der Dinge zunehmend kulturell betrachtet wird, d.h. in den Mittelpunkt rückt und so neue Perspektiven auf sozio-kulturelle Prozesse zulässt (Vgl. Dorisea, o.J.).

Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Theorie und die Kapitalismus-Forschungen von Daniel Miller haben maßgeblich zum material turn beigetragen. Dort fällt auch der Begriff agency, welcher so viel wie “Wirkmacht der Dinge” bedeutet. Man stellt sich also unter anderem die Frage, inwieweit Dinge eine eigene Handlungsmacht haben und ob sie sogar eine eigene Subjektivität aufweisen (ebd.).

Ein Beispiel für agency ist, wenn ein Akteur einen Gegenstand benutzt und dieser ihm eine Identität zuweist. Wenn eine Person eine Waffe in die Hand nimmt, fallen direkt Assoziationen wie Räuber oder Polizist. Dinge (Subjekte) verleihen also dem Akteur die Möglichkeit zu handeln. Ohne eine Vorstellung des Akteurs über die Wirkmacht und Auswirkung der Dinge, verfügt er nicht über Agency (Vgl. Goetzke/ Schwertel, 2021).


Abb. 1: Agency, Abbildung: Sarah Hillmann (Vgl. von: Heikkinen/ Creative Fabrica, 2020/21)

Materialitätsproblem

Bruno Latour sah die Materialität der Dinge als Problem an und hinterfragte sie. Er entwickelte verschiedene Lösungsansätze für das Materialitätsproblem. Den Menschen solle die Bedeutung der Dinge bewusstwerden, um sie in die Welt als Perspektive zu integrieren. Dinge seien Anteil der Wissensgenese und an der menschlichen Praxis. Daher sei es umso wichtiger, dass Religion, Glaube und Theologie ernst- und wahrgenommen werden (Vgl. Bogner et al. 2021, 32f.).

In seiner weiteren Forschung untersucht er die Schnittstellen zwischen Mensch und Ding sowie zur Natur und Kultur. Ein Beispiel von Bruno Latour ist die Vermischung vom Smartphone in Bezug auf die Grenzen zwischen Mensch und Ding (ebd. 33f.). Hierbei kann das Smartphone nur funktionieren, wenn es von einem Menschen gesteuert wird. Der Mensch braucht wiederum das Smartphone zum Telefonieren oder für die Internetrecherche. Somit agieren Menschen und Dinge miteinander.

Für Latour gibt es keine klaren Trennungen zwischen Subjekt und Objekt, Werten und Fakten, Kultur und Natur, Politik und Wissenschaft und zwischen Mensch und Gott (ebd., 34f.). Er zweifle daran, dass niemand mehr auseinanderhalten könne, was natürliche, kulturelle Fakten und Deutungen sind. Hier verweist er als Beispiel auf den Klimawandel oder Epidemien (ebd., 33f.).

Bruno Latour schreibt: „Jedes Ding, das eine gegebene Situation verändert, indem es einen Unterschied macht, [ist] ein Akteur.“ (ebd., 36). Zum Beispiel ist ein neu installiertes Smartboard in einem Klassenraum der Akteur, sofern es zur Interaktion im Unterricht beiträgt, ansonsten würde der Akteurstatus schnell wieder verloren gehen (ebd., 36). Nach Latour sind Dinge vielmehr als nur der Hintergrund menschlichen Handels, sie können unter anderem beeinflussen, ermutigen und auch verhindern (ebd., 37).

Im Gegensatz zu den ersten Lösungsansätzen des Materialitätsproblems geht er auch auf die zugrundeliegende Ontologie ein. Bruno Latour beschreibt seine Akteur-Netzwerk-Theorie damit, dass ein Netzwerk durch interaktive Akteure (Smartphone) entsteht, welche mit menschlichen Akteuren interagieren. Das bedeutet, dass Subjekte oder Menschen nicht als alleinige Akteure zu verstehen sind, sondern immer in Abhängigkeit zu anderen Akteuren handeln (ebd. 34f.).
Auch in der politischen Theorie nimmt der Neue Materialismus immer mehr an Bedeutung zu. Die Philosophin und Politologin Jane Bennett setzt sich mit der Ökologie der Dinge auseinander und fordert Ökologie neu zu denken. Umwelt und Mensch stehen in Wechselwirkung miteinander, beeinflussen sich gegenseitig und bestehen aus einem komplexen Gefüge. Sie spricht von lebhafter Materie und vertritt die Ansicht, dass alles Materielle als vital angesehen werden muss, damit wir im Einklang mit der Umwelt leben können (Vgl. Bennett 2020). Würmer und Elektrizität sieht sie beispielsweise als Aktanten an, die in Verbindung mit anderen physikalischen und physiologischen Körpern zu wichtigen Ereignissen führen können (ebd., 160).

Fazit

Für DesignerInnen ist es wichtig sich bewusster über das Verständnis für die Wirk- und Handlungsmacht der Dinge zu werden und dies im Designprozess zu berücksichtigen. Dinge müssen nicht immer eine Funktion für das menschliche Bewusstsein haben. Nur durch ein genaueres Verständnis des Materiellen, etwa in Bezug auf die Ökologie, kann ein bewussterer, womöglich gar besserer Umgang mit unserer Umwelt gelingen.

Lena Bietke & Sarah Hillmann , März 2022

References

Literatur

Barsch, Sebastian/van Norden, Jörg: Historisches Lernen und Materielle Kultur. Von Dingen und Objekten in der Geschichtsdidaktik, transcript Verlag, Bielefeld, 2020.

Bennett, Jane (Hrsg.): Lebhafte Materie. Eine politische Ökologie der Dinge (Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Henninger, Max), 2. Auflage, MSB Matthes & Seitz Berlin Verlagsgesellschaft mbH, Berlin, 2020.

Bogner, Daniel; Schüßler, Michael; Bauer, Christian (Hrsg.): Gott, Gaia und eine neue Gesellschaft. Theologie anders denken mit Bruno Latour, 1. Auflage, transcript Verlag, Bielefeld, 2021.

Internet

Almagenic Digital Intelligence Management (Hrsg.): Die eigene und eingeworbene Kapazität zum Handeln (o.J.), Online im WWW unter URL: http://www.almagenic.com/glossar/begriff/agency/ [11.01.2022].

Creative Fabrica (Hrsg.): Pistol Line Icon (05.02.2021), Online im WWW unter URL: https://www.creativefabrica.com/de/product/pistol-line-icon-2/ [11.01.2022].

Dorisea (Hrsg.): Die "Sprache" der Dinge. Zum 'material turn' in der Kulturtheorie (o.J.), Online im WWW unter https://web.archive.org/web/20150807010725/http://www.dorisea.de/de/node/1316 [11.01.2022].

Geisler, Florian: Neue Materialismen zur Einführung (04.11.2021), Online im WWW unter URL: https://pw-portal.de/schlaglichter/41305-neue-materialismen [11.01.2022].

Goetzke, Louka Maju/Schwertel, Tamara: Neuer Materialismus (15.04.2021), Online im WWW unter URL: https://www.socialnet.de/lexikon/Neuer-Materialismus [11.01.2022].

Hahn, Katharina: Lexikon Materialismus (12.12.2011), Online im WWW unter URL: https://www.helles-koepfchen.de/artikel/3360.html [11.01.2022].

Heikkinen, Antti: Menschliche Figur Symbol (26.07.2020), Online im WWW unter URL: https://www.istockphoto.com/de/vektor/menschliche-figur-symbol-männliche-person-avatar-symbol-mann-oder-herr-toilette-und-gm1258926361-369011072 [11.01.2022].

philosophie Magazin (Hrsg.): Materialismus (o.J.), Online im WWW unter URL: https://www.philomag.de/lexikon/materialismus [11.01.2022].

Download & Citation Info

Bietke, Lena & Sarah Hillmann (2022): Design und New Materialism. In: DESIGNABILITIES Design Research Journal, (03) 2022. https://tinyurl.com/3mdw64su ISSN 2511-6274