July 2nd, 2023

Zwischen Ehrfurcht und Verwunderung – Annäherungen an das Erhabene und das Phantastische

In seinen filmtheoretischen Abhandlungen untersucht der Kultur- und Medienwissenschaftler Andrew M. Butler (2000; 2001; 2005; Bould et al. 2009), wie das Phantastische in verschiedenen kulturellen Kontexten verwendet wird, um die Grenzen von Realität und Fiktion zu überschreiten und neue Möglichkeiten der Interpretation und Erfahrung zu eröffnen. Sein Interesse gilt dabei insbesondere der Frage, wie das Phantastische als Mittel verwendet werden kann, um Autorität und Macht in Kunstwerken und Literatur zu untergraben und zu subvertieren.

Das Phantastische bezieht sich zumeist auf das, was fantastisch oder unwirklich erscheint. Es kann sich auf Elemente beziehen, die in der „realen“ Welt nicht möglich oder nicht vorhanden sind, wie zum Beispiel magische oder übernatürliche Elemente. Im Design- oder Architekturkontext findet der Begriff des „Phantastischen“ häufig dann Verwendung, wenn zum Beispiel „futuristische“ Elemente oder „ungewöhnliche“ Formen und Materialien verwendet werden.

Designhistorisch sind dies nicht selten Momente, in denen ein weiterer Begriff zum Tragen kommt, der des Erhabenen. Das Erhabene – ähnlich wie in der Kunst – wird dabei gleichgesetzt mit etwas, das als beeindrucken oder überwältigend empfunden wird. Es geht um ein Gefühl von Ehrfurcht, welche – vielleicht aufgrund von Größe oder Inszenierungsform – durch ein „Werk“ oder eine „Schöpfung“, einen Gegenstand oder ein Bild auf Seiten der Betrachten hervorrufen kann.

Edmund Burke argumentiert, dass das Erhabene in der Kunst das Gefühl von Ehrfurcht und Achtung hervorruft, das durch Größe, Monumentalität und Unerreichbarkeit hervorgerufen wird. Das Erhabene (hier ebenfalls: in der Kunst) hänge von emotionalen Reaktionen und subjektiven Erfahrungen ab und lasse sich nicht auf objektive Merkmale oder Qualitäten zurückführen.

Im 19. Jahrhundert entwickelte sich das Erhabene zu einem der ästhetischen Schlüsselbegriffe der Romantik (vgl. Hoffman & Whyte 2010). Doch auch in den Naturwissenschaften spielt er eine Rolle. Längst haben Wissenschaftler:innen damit begonnen, die „physiologischen und genetischen Grundlagen unseres Verständnisses für das Schöne und das Erhabene“ aufzuspüren, während die Neurophysiologie die „Landschaft unserer Emotionen“ erfasst und sich die Biologie damit beschäftigt, „wie neuronale Impulse zu ästhetischen Urteilen führen“ (Ebd.).

Beide Begriffe – das Erhabene und das Phantastische können im Design als Mittel lokalisiert werden, um Emotionen oder bestimmte Atmosphären in einem Ding zu erzeugen. Das Erhabene finden wir beispielsweise dann vor, wenn wir uns mit Gefühlen von Ehrfurcht oder Achtung konfrontiert sehen, während das Phantastische dann Einzug hält, wenn Neugier oder Verwunderung in uns geweckt werden.

Das Erhabene und das Phantastische müssen dabei nicht zwangsläufig miteinander in Konflikt stehen. Sie können auch kombiniert auftreten, was insbesondere dann der Fall ist, wenn es um das wahrgenommene Gefühl einer einzigartigen ästhetische Erfahrung geht. Bei der Schaffung von Atmosphäre und Emotion können sie eine nicht unerhebliche Rolle in Bezug darauf spielen, bestimmte Gefühle und Stimmungen zu provozieren.

Diedrich Diederichsen: God’s Golfball. Das Erhabene, das Planetarische und eine ökologische Kunst, Vortrag HfG Offenbach, 2023. Poster: Paula Heinrich.

Zum Planetarischen und der Ökologischen Kunst

Nun sind ästhetische Kategorien immer auch einer historischen Entwicklung unterworfen. Und so muss auch das (dynamische) Erhabene, als eine ästhetische Erfahrung, die auf der Grundlage des menschlichen Verhältnisses zur Natur konzipiert wurde, unter den Bedingungen einer fortgeschrittenen ökologischen Krise überdacht werden. Der Kulturwissenschaftler, Autor und Poptheoretiker Diedrich Diederichsen ging dem jüngst in seinem Vortrag „God’s Golfball“ an der HfG Offenbach nach, in dem er sich auf die Suche nach adäquateren ästhetischen Antworten auf die ökologische Krise und der Bedrohung unseres Planeten begab. Im Zentrum die Frage: Hat uns das Gefühl der Überlegenheit gegenüber der Natur zu ihrer Zerstörung erzogen? Oder ist das Erhabene längst durch ein Bild der Natur als System ersetzt worden?

Diederichsen argumentiert, dass an die Stelle des „furchterregenden, tosenden Meeres oder des alpinen Abgrunds, denen das Subjekt in der Erfahrung des Erhabenen seinen Willen entgegensetzen kann“, heute Bilder entgegentreten, die wie Landkarten funktionieren, fotografiert von Menschen mit Kameras, die die Natur der Erde aus dem Weltraum betrachten: der blaue Planet als ein fragiles, nachhaltig bedrohtes System, dessen einstmalige Unermesslichkeit nun auf einen besorgten Blick reduziert wird (Diederichsen 2023).

Hier schließt sich der Kreis: Wenn wir über das Erhabene in Wissenschaft und Kunst nachdenken, werden wir immer wieder damit konfrontiert, wie wir mit dem völlig Neuen, dem Extremen und dem nicht Darstellbaren (Hoffmann & Whyte 2011) – etwa drohendem Unheil, Besorgnis, Angst, Gefahr, Untergang oder Katastrophe – umgehen. Die „Wissenschaft“ – und damit liegt sie den gestaltenden Disziplinen bisweilen näher als man annehmen mag – ist „ständig mit dem Problem konfrontiert, das zu beschreiben, was jenseits bisheriger Erfahrung“ und jenseits des (gesunden) „Menschenverstandes“ liegt“ (ebd.). Das ist das Erhabene. Fantastisch.

References

Bould, Mark / Andrew M. Butler / Adam Roberts & Sherry Vint (2009): Fifty Key Figures in Science Fiction. Routledge

Burke, Edmund (1989): Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen. Hamburg: Meiner.

Butler, Andrew M. (2000): Philip K. Dick. Pocket Essentials

Butler, Andrew M. (2000): Cyperpunk. Oldcastle

Butler, Andrew M. (2000): Postmodernism. Oldcastle

Butler, Andrew M. (2001): Terry Pratchet. Oldcastle

Butler, Andrew M. (2005): Film Studies. Pocket Essentials

Diederichsen, Diedrich (2023): God's Golfball. Das Erhabene, das Planetarische und die ökologische Kunst (Vortrag). HfG Hochschule für Gestaltung Offenbach.

Fry, Paul (1994): The Theory of the Sublime from Longinus to Kant. Cambridge University Press.

Hoffmann, Roald & Iain Boyd Whyte (Hgs.) (2010): Das Erhabene in Wissenschaft und Kunst: Über Vernunft und Einbildungskraft. Berlin: Suhrkamp, edition unseld

Kant, Immanuel (1968): Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, in: Kants Werke, Vorkritische Schriften II 1757 - 1777, Akademie – Textausgabe, Berlin.

Morse, Donald E. (1987): The Fantastic in World Literature and the Arts: Selected Essays from the Fifth International Conference on the Fantastic in the Arts (Contributions to the Study of Science Fiction & Fantasy). Greenwood Press.

Napier, Susan J. (1996): The Fantastic in Modern Japanese Literature: The Subversion of Modernity", Routledge.

Shaw, Philipp (2004): The Sublime: The New Critical Idiom. Routledge

Download & Citation Info

Peters, Samuel (2023): Zwischen Ehrfurcht und Verwunderung – Annäherungen an das Erhabene und das Phantastische. DESIGNABILITIES Design Research Journal, (06) 2023. https://tinyurl.com/5n7u9389 ISSN 2511-6274