October 6th, 2025
Dis/Ability und digitale Medien – Interdisziplinäre Perspektiven auf Technologien, Praktiken und Zugänglichkeiten
Die Erforschung technischer Hilfsmittel und ihrer Nutzung durch Menschen mit Behinderung galt als ein bisher eher wenig bearbeitetes Feld der deutschsprachigen Medienwissenschaft. Das Netzwerk „Dis-/Abilities – Nicht-/Behinderung und Medien im Kontext der Digitalisierung“ (2020–2024) hat sich dieser Leerstelle angenommen. In einem interdisziplinären Zusammenschluss von rund zwanzig Forscher:innen wurden in den vergangenen vier Jahren Konferenzen, Workshops und Publikationen erarbeitet, die das Zusammenspiel von Körpern, Sinneserfahrungen und Technologien ausloten. Dabei standen Konzepte wie Assistenz, Teilhabe und Kooperation im Zentrum kritischer Reflexionen. Ziel war es, Nicht-/Behinderung und digitale Medien systematisch zu kartieren und neue methodische Ansätze für ihre Analyse zu entwickeln.
Über die Disability Studies hinaus fragt das Netzwerk, wie Verbindungen zwischen Körper und Technik entstehen und welche Wirkmächte daran beteiligt sind – von menschlichen Körpern über Prothesen bis hin zu Algorithmen. Dis-/Abilities werden so als behindernde und zugleich ermöglichende Praktiken verstanden, die sich in der Relation zwischen Körpern und Technologien entfalten. Untersucht wurden zentrale Begriffe wie agency, Assistenz, Barrierefreiheit und sensorische Erfahrung, um Assoziationen von Körpern und Medien aus unterschiedlichen methodischen Perspektiven zu beleuchten. Das Projekt war in der medienwissenschaftlichen Forschung verankert, zugleich aber inter- und transdisziplinär angelegt, mit Perspektiven aus der Mediengeschichte, Kultur- und Literaturwissenschaft, Soziologie und Designforschung. Zentral war dabei auch der Dialog zwischen deutschsprachigen Zugängen und den Disability Media Studies aus dem anglo-amerikanischen Bereich.
Aus dieser Zusammenarbeit ist nun ein Sammelband hervorgegangen. Die thematische Spannweite der Beiträge verdeutlicht die Produktivität dieser Perspektive. Markus Spöhrer zeigt anhand von Videospiel-Controllern der 1970er bis 1990er Jahre, dass Zugänglichkeit weniger auf industrielle Innovationen als auf Praktiken des Hackings und Customizings zurückging. Anna-Lena Wiechern diskutiert die epistemologischen Hindernisse der Kittler’schen Medientheorie, die Behinderung häufig nur metaphorisch fasste. Jan Müggenburg und Andreas Wagenknecht analysieren assistierte Kommunikation und veranschaulichen, wie Technikgestaltung, Alltagspraxis und Biografie ineinandergreifen. Axel Volmar untersucht die Marginalisierung gehörloser Nutzer:innen in der Videokommunikation und die damit verbundene zusätzliche Infrastrukturierungsarbeit.
Katrin Röder zeigt, wie Disability-Aktivismus auf Social Media neue Sichtbarkeit schafft, aber auch an Plattform-Barrieren stößt. Natalie Geese und Robert Stock reflektieren blinde Geldpraktiken im Umgang mit Automaten, Terminals und Online-Shopping. Christian Meier zu Verl eröffnet eine interaktionssoziologische Perspektive auf Demenzpflege, in der Nicht-/Behinderung situativ hervorgebracht wird. Melike Şahinol thematisiert methodische Herausforderungen ethnographischer Gespräche mit Kindern, die 3D-gedruckte Prothesen nutzen. Yvonne Schmidt, Nina Mühlemann und Celestina Widmer analysieren Angela Alves’ digitale Performance No Limit und die dort entwickelten „aesthetics of access“. Tom Bieling, Frithjof Esch, Beate Ochsner, Siegfried Saerberg und Robert Stock untersuchen digitale Zusammenarbeit in Videokonferenzen und betonen den Wert von Zugangswissen und Zugangsarbeit. Sonja Buchberger und Jana Herwig widmen sich der Hochschullehre und beleuchten die Spannungsfelder von Exzellenz, Studierbarkeit und inklusiver Didaktik.
Auf 340 Seiten verbindet der Sammelband somit historische und gegenwartsbezogene Fallstudien mit theoretischen Interventionen und empirischen Analysen und macht deutlich, dass Behinderung und Nicht-Behinderung nicht nur durch technische Innovationen, sondern immer auch durch soziale Praktiken, normative Erwartungen und unterschiedliche Umgehungsstrategien hergestellt werden. In diesem Sinne liefert das Buch einen wichtigen Beitrag zur Etablierung einer dis/ability-sensiblen Medienwissenschaft und Designforschung, die digitale Technologien nicht allein als Werkzeuge der Inklusion, sondern auch als potenzielle Produzenten neuer Barrieren und Exklusionen kritisch reflektiert.
Stock, R., Meier zu Verl, C., Şahinol, M., Spöhrer, M., Volmar, A., Wagenknecht, A., & Wiechern, A.-L. (Hrsg.). (2025). Dis/Ability und digitale Medien: Interdisziplinäre Perspektiven auf Technologien, Praktiken und Zugänglichkeiten. Wiesbaden: Springer VS. https://doi.org/10.1007/978-3-658-46724-1