July 19th, 2022

Sterbeorte – Über eine neue Sichtbarkeit des Sterbens in der Architektur

Buchbesprechung

Das Sterben war schon immer Bestandteil des Lebens und unserer Gesellschaft. Eine zunehmende Insti¬tutionalisierung hat jedoch dazu geführt, dass das Sterben immer mehr in den Hintergrund und aus dem öffentlichen Leben „verschwindet“. In ihrem Buch „Sterbeorte – Über eine neue Sichtbarkeit des Sterbens in der Architektur“ setzt sich Katharina Voigt mit dem gestalterischen Einfluss auf die letzte Lebensphase und das Sterben auseinander.

Die Architektin Katharina Voigt, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für
Entwerfen und Gestalten der TU München, dokumentiert darin die typologische Genese von Sterbeorten, führt zeitgenössische künstlerische Positionen zur Körperlichkeit, Transformation und Räumlichkeit des Sterbens an und entwickelt daraus Grundlagen für ein angemessenes Raumgeben am Lebensende.
Sterben

Das Wort Sterben stammt vom westgermanischen Verb „sterban“, welches „das Leben verlieren“ bedeutet (vgl. Pfeiffer 1997, zitiert nach Voigt 2020, 10). Eine genaue, allgemeingültige Definition gestaltet sich derzeit noch schwierig. Definitionen wer¬den maßgeblich von verschiedenen medizinisch-biologischen Modellen, sowie durch religiöse und ethische, gesellschaftliche und kulturelle, aber auch durch rechtlich konstruierte und historische Be¬dingungen beeinflusst (vgl. Groß, Kreuchner & Grande 2010, 17).

Der Soziologe Werner Schneider geht von dem sozialen Prozess des Sterbens als eine Art Ausglie¬derung aus. „Der Ausgliederungsprozess (…) zielt im Kern auf eine grundlegende Um- und Neude¬finition der gemeinsam geteilten Wirklichkeit durch alle am Sterbensverlauf Beteiligten“. (Schneider 2014, zitiert nach Caduff 2022, 22). Dies bedeutet, dass nicht nur die Sterbende, sondern auch alle vom Tod und Sterbeprozess betroffenen Menschen, Teil dieses Ausgliederungsprozesses sind (vgl. Caduff, 2022, 22)

Sterbeorte

Sterbeorte sind architektonische Gebäude, in denen das Lebensende erlebt wird. Sterbeorte ver¬stehen sich sowohl als für das Lebensende konstruierte Architekturen wie stationäre Einrichtungen als auch als private Wohnkonzepte. Die Gestaltung von stationären, institutionellen Einrichtungen wie Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen, Hospize und Palliativstationen usw. wurde im Laufe der Zeit zu einer konkreten Herausforderung und Aufgabe der Architektur (vgl. Voigt 2020, 296).

Wie kann die Architektur das Lebensende sinnvoll mitgestalten?

Angesichts einer zunehmenden Institutionalisierung des Sterbens die sich im Laufe der Zeit entwickelt hat, stellt sich die Frage, wie Räume für das Lebensende gestalten werden können, um sich den verschiedenen Bedürfnissen und Wandlungen angemessen anzupassen (S. 229). Diese Frage beantwortet Voigt unter anderem am Beispiel des Hospizes als öffentlichem Gebäude.

Institutionelle Hospizarchitektur für das Lebensende hat in erster Linie die Aufgabe, Räume zu erschaffen, welche Sicherheit, Geborgenheit und Schutz vermitteln (S. 310). Um einen niederschwelligen Zugang zu ermöglichen, benötigt es Räume zur Anknüpfung und Information (S. 299). Hospize können zu hybriden Orten werden, an denen verschiedene Nutzungen des Gebäudes gleichzeitig ablaufen und in Wechselwirkung zueinanderstehen (S. 300).

Für die Architektur gemeinschaftlicher Wohnformen verändern sich diese Übergänge zwischen öffentlichem und privatem Raum verstärkt. Die Trennung von öffentlich und privat findet nun vermehrt im Gebäudeinneren statt (S. 230). Wichtig zu verstehen ist, dass Hospize Einrichtungen für sterbenskranke Menschen, Anlaufstelle für Angehörige und Arbeitsstätte für haupt- und ehrenamtliche Mitarbeitende sind. Die Architektur hat die Aufgabe möglichst all die unterschiedlichen Bedürfnisse in die Planung, den Aufbau und die Nutzung von Gebäuden mit einzubinden.

Hospizarchitektur für Angehörige

Neben dem Personal und den Bewohner:innen des Hospizes, gehören auch Angehörige der Sterbenden zum Hospizalltag. Aufgabe der Hospizarchitektur ist es deshalb auch ein Kommen und Gehen zu ermöglichen. Ebenfalls sollen Räume der Beratung, Begleitung und Unterstützung bei der Trauerbewältigung Teil eines Hospizes zu sein (S. 295).

Wertvolle Ergänzungen für Nahestehende bieten sich außerdem in räumlichen Gelegenheiten für Rückzug, Reflexion und Regeneration, Möglichkeiten im Hospizkontext wohnen und arbeiten zu können, sowie einem Angebot zur Entlastung von besonderen Herausforderungen des eigenen Alltags (S. 302).

Hospizarchitektur für das Personal

Das Hospiz ist für das Personal in erster Linie ein Ort der Arbeit. Sinnvolle Ergänzungen innerhalb des Gebäudes finden sich hier z.B. in Zusatzangeboten der professionellen Kommunikation, Qualifizierung und Weiterbildung. Es sollten Räume zur Bildung, zum Austausch und für Konferenzen und Sitzungen geschaffen werden. Auch Psychologie-, Mediations- und Coachingeinrichtungen sind sicherlich sinnvoll (S. 303). Zudem sind „Schwellenräume“ innerhalb eines Hospizes hilfreiche Orte, um dem Personal eine räumliche Distanz zum Berufsalltag zu bieten. Auch die Personalräume und mögliche Außenbereiche sollten Abstand zu den Bereichen der anderen Nutzer:innen des Hospizes haben (S. 312).

Hospizarchitektur für Menschen am Lebensende

Das Hospiz ist für die Menschen am Lebensende eine Art „Herberge, ein Ort aufmerksamer Fürsorge und des würdevollen Sterbens“ (S. 295). Häufig geht die gesundheitliche Einschränkung mit einer Einschränkung der gesellschaftlichen Teilhabe einher. Mögliche hybride Ergänzungen der klassischen Hospizarchitektur sind beispielsweise Ausstellungs- und Museumsräume, Konzert- oder Veranstaltungsräume, Kinos, Theater oder Bibliotheken oder Veranstaltungsräume, Kinos, Theater oder Bibliotheken (S. 301).

Für viele Menschen am Lebensende ist die Krankheit mit Scham verbunden. „Scham entsteht, wo das Austarieren der eigenen Grenzziehungen von Privatsphäre und Eigenheit unmöglich und durch das Einwirken äußerer Einflüsse dominiert beziehungsweise abgelöst wird, sodass der Eindruck des Exponiert- und Ausgeliefertseins empfunden wird.“ (S.308) Gerade dann kommen private Räumen des Rückzugs als elementare Bestandteile der Hospizarchitektur eine große Bedeutung zu, denn Räume verfügen über unterschiedlich ausgeprägte „Stufen der Intimität“ (S. 307).

Potenziale der Raumgebung des Lebensendes

Überdies hat birgt Architektur das Potenzial den Tod und das Sterben beispielsweise durch die Gestaltung von Hospizen in der Gesellschaft sichtbar zu machen und in das Erleben einer Stadt zu verankern. Nicht nur die Außenfassade der stationären Einrichtungen können aktiv zur Auseinandersetzung mit dem Thema beitragen, auch die anderen Gebäudeteile können zu identitätsstiftenden Räumen werden.

Durch das Sichtbarmachen des Todes in der Architektur kommt es bestenfalls zu einem öffentlichen Diskurs. Die Architektur legt damit einen wichtigen Grundstein für den, in den Sozialwissenschaften heraus-gearbeiteten Bedarf nach einer «Kultur der Sterbebegleitung» (S. 296). Design und Architektur haben damit einen bedeutenden Einfluss auf die Entwicklung unserer Gesellschaft und das Zusammenleben.

Fazit

In ihrer dezidierten Auseinandersetzung mit „Sterbeorten“ bezieht Voigt nicht nur bauliche, sondern richtigerweise auch auf den ersten Blick architekturfernere Bereiche wie die Philosophie, die Sozialwissenschaft oder auch die Biologie mit ein. Dies gelingt häufig an den Stellen am besten, an denen die Idee hinter baulichen Aspekten oder solchen, gesellschaftlicher Konvention mit visuellen Darstellungen (z. B. Bildern, skizzenhaften Abbildungen) versehen sind, die für den Verständnisprozess architektonischer Praxis so elementar sind.

Katharina Voigt
Sterbeorte – Über eine neue Sichtbarkeit des Sterbens in der Architektur
Deutsch, 404 Seiten, Transcript, 2022 ISBN 978-3-8376-4983-3

References

Caduff, C. (2022). Sterben und Tod öffentlich gestalten. Neue Praktiken und Diskurse in den Künsten der Gegenwart. Paderborn: Brill Fink Verlag. DOI: https://doi.org/10.30965/9783846766668

Groß, D.; Kreuchner, S. & Grande, J. (2010). Zwischen biologischer Erkenntnis und kultureller Setzung: Der Prozess des Sterbens und das Bild des Sterbenden. In M. Rosentreter, D. Groß & S. Kaiser (Hrsg.). Sterbeprozesse - Annäherungen an den Tod (S. 17-32). Kassel: kassel university press GmbH, Link: https://www.uni-kassel.de/upress/online/frei/978-3-89958-960-3.volltext.frei.pdf, zuletzt abgerufen am 09.07.2022)

Voigt, K. (2020). Sterbeorte. Über eine neue Sichtbarkeit des Sterbens in der Architektur. Bielefeld: transcript Verlag. DOI: 10.14361/9783839449837

Download & Citation Info

Klattenhoff, Meret (2022): Sterbeorte: Über eine neue Sichtbarkeit des Sterbens in der Architektur. Buchbesprechung. DESIGNABILITIES Design Research Journal, (07) 2022. https://tinyurl.com/ymnn4x3j ISSN 2511-6274