August 26th, 2022

Transformative Praxen einer anderen Stadtgesellschaft

Gemeinsam gärtnern und Kunst leben als utopisches Labor einer gerechten und ökologischen Stadtgesellschaft – so lautete die Devise des Hamburger Nachbarschaftsgartens »Keimzelle« (2011-2019). Erfahrungen, Erlebnisse, Reflektionen und Außenbetrachtungen wurden im jüngst erschienenen, von Anke Haarmann und Harald Lemke herausgegebenen gleichnamigen Sammelband kompiliert. Hierbei geht es nicht allein um das Gärtnern, sondern insbesondere um das Inneinanderwirken von “kritischer Wissenschaft und politischer Initiative, anhanddessen die Möglichkeitsfelder einer alternativen Stadtentwicklung nachvollziehbar werden. Begleitet von einer transdisziplinären Diskursgemeinschaft wird das Gärtnern darin “zum Modell einer transformativen Kraft, in der Fragen des Guten Lebens greifbar werden”.

Mit Beiträgen von Gesa Ziemer, Hanno Rauterberg, Marco Clausen, Bjørn Inge Melås, Ella von der Haide, Severin Halder, Anna-Lena Wenzel, Tanja Busse, Michael Ziehl oder Christa Müller werden darin theoretische mit künstlerischen Auseinandersetzungen verwoben – stets auf der Spurensuche nach Potenzialen einer urbanen Praxis der Selbermachens.

In der Kategorie “Fachbücher - Wissenschaftliche Bücher - Schulbücher” wurde das Buch nun durch die Stiftung Buchkunst auf der Shortlist der 25 schönsten Deutschen Bücher gewürdigt. Die Begründung der Jury: „Es war einmal ein kleiner Garten, die Keimzelle. Sie verband Kunst, Politik und Gemüse in Praxis und Theorie.“ Auf dem Umschlag prangt eine prächtig pralle Bohne, gedruckt mit einer Sonderfarbe in Leuchtorange. Die Umschlagklappen sind innen flächig mit einer zweiten Sonderfarbe bedruckt: ein dunkles Moosgrün. Die Klappen manifestieren mit Grundriss und Lageplan der „Keimzelle“, dass dieser utopische Ort in Hamburg tatsächlich existierte – von 2011 bis 2019.

Die vorliegende Publikation verkörpert nun die Fortsetzung der „Keimzelle“ mit anderen Mitteln. Wimmelnde Collagen wuchern in freien Formen fruchtbar über Doppelseiten. In ihnen kommt ein idealistischer Elan zum Ausdruck. Die programmatischen und stadtsoziologischen Aufsätze sind aufregend typografiert. Das Leuchtorange kommt auf den Kapiteltrennseiten als aktionistisch gesprayte Selbstermächtigung zur Geltung. In den Fußnoten wiederum signalisiert das knallige Orange die theoretische Unterfütterung der Argumentation. Aber wo stehen bloß die Fußnoten? Am Fuß der Seiten? Nein. In den Marginalspalten auch nicht. Sie schieben sich seitlich in die Satzkolumne, bilden blasenförmige Formen aus und werden wie die Organellen eines Zellkörpers in die Matrix des Satzspiegels eingebettet. Mit den Texten von Herausgeberin und Herausgeber geschieht noch Unglaublicheres: Da winden sich papierweiße Gänge mitten durch die Zeilen. Spätestens jetzt wird klar: Die moosgrüne Druckfarbe gilt als Metapher für gehaltvollen Humus und gedeihliches Miteinander.“

References

Anke Haarmann / Harald Lemke (Hg.)
Die Keimzelle – Transformative Praxen einer anderen Stadtgesellschaft. Theoretische und künstlerische Zugänge.
224 Seiten; Transcript, 2021
ISBN: 978-3-8376-5550-6