November 1st, 2023

Entwerfen und Entbergen – Videokonferenz als Kulturtechnik

In seiner Genealogie der Projektion setzt sich Siegfried Zielinski (2010) mit der Idee des Entwerfens auseinander, die der tschechisch-brasilianische Philosoph Vilém Flusser (1998) in seinem Werk “Vom Subjekt zum Projekt” entwickelt hat. Flusser definiert das Entwerfen als den Prozess, bei dem sich der Mensch von der passiven Rolle des Empfängers löst und selbst zum Schöpfer wird. Zielinski verknüpft diese Idee des Entwerfens mit der heideggerschen Idee des Entbergens, bei der das verborgene Wesen einer Sache durch das Entdecken und Freilegen der verborgenen Zusammenhänge zum Vorschein gebracht wird.

Was passiert, würde man diese Verbindung auf die Kulturpraxis des Videoconferencing anwenden? Hierzu ist es wichtig zu verstehen, dass Videoconferencing eine Technologie ist, die es uns ermöglicht, räumlich getrennte Personen miteinander zu verbinden. Dabei können wir uns auch auf eine bestimmte Weise als “Schöpfer” unserer eigenen Kommunikation verstehen. Wir können wählen, welche Informationen wir teilen und wie wir uns präsentieren wollen. Gleichzeitig gibt es jedoch auch eine verborgene Seite des Videoconferencing, die uns nicht unbedingt bewusst ist. So stellt sich beispielsweise die Frage, inwiefern die Technologie des Videoconferencing die Art und Weise verändert hat, wie wir miteinander kommunizieren. Während wir uns früher persönlich getroffen haben, um uns auszutauschen, können wir heute bequem von zu Hause aus arbeiten und uns dennoch mit unseren Kolleg:innen, Bekannten und Verwandten treffen. Doch wie beeinflusst das Videoconferencing unsere Interaktionen und wie wirken sich diese auf unsere zwischenmenschlichen Beziehungen aus?

Eine Möglichkeit, diese Frage zu beantworten, ist die Anwendung der heideggerschen Idee des Entbergens (Heidegger 1962, 11f). Zielinski weist darauf hin, dass beim Entbergen das Wesen einer Sache durch das Entdecken und Freilegen der verborgenen Zusammenhänge zum Vorschein gebracht wird. Im Falle des Videoconferencing bedeutet dies, dass wir uns bewusst werden sollten, welche verborgenen Zusammenhänge und Auswirkungen das Videoconferencing auf unsere zwischenmenschlichen Beziehungen hat. So ließe sich beispielsweise argumentieren, dass das Videoconferencing dazu beiträgt, Distanzen zu überwinden und Menschen miteinander zu verbinden. Auf der anderen Seite kann es aber auch dazu führen, dass wir uns weniger intensiv mit unseren Mitmenschen beschäftigen und unsere Interaktionen oberflächlicher werden. Durch das Entbergen der verborgenen Zusammenhänge des Videoconferencing können wir uns bewusst machen, welche Auswirkungen diese Technologie auf uns hat und wie wir diese nutzen können, um unsere Beziehungen zu verbessern und zu vertiefen.

Darüber hinaus können wir uns auch fragen, wie das Entwerfen im Kontext des Videoconferencing eigentlich genau aussieht und vonstattengeht. Welche Gestaltungsmöglichkeiten haben wir, um unsere Kommunikation zu verbessern und zu optimieren. Aspekte wie Audio- und Videoqualität oder die Wahl der Hintergründe sind hierfür nur exemplarisch genannte Aspekte einer Vielzahl von Dingen, die dazu beitragen können, eine wahlweise angenehme, produktive, seriöse, entspannte, eindringliche, ungezwungene oder kolla-borative Atmosphäre zu schaffen, sowie nicht zuletzt unsere Persönlichkeit auszudrücken.

Das Entwerfen im Videoconferencing kann somit dazu beitragen, unsere Kommunikation zu verbessern und unsere Beziehungen zu stärken. Indem wir uns bewusst mit den verborgenen Zusammenhängen und Auswirkungen des Videoconferencing auseinandersetzen und unsere Gestaltungsmöglichkeiten nutzen, können wir dazu beitragen, dass unsere Interaktionen „authentisch“, „effektiv“, „persönlich“ usw. sind.

Es ist jedoch auch wichtig zu betonen, dass das Entwerfen im Videoconferencing keine Lösung für alle Herausforderungen darstellt (Stichwort: Entfremdung, Vereinsamung, Soziophobie etc.).

Heideggers Konzept des “Entbergens” bezieht sich darauf, dass Dinge nicht einfach nur vorhanden sind, sondern dass sie eine tiefere Bedeutung und Geschichte haben, die erst durch das Entdecken und Hervorbringen (Entbergen) dieser Bedeutung erfahrbar wird. Zielinski überträgt dieses Konzept auf die Gestaltungspraxis und liefert eine Argumentationsgrundlage dafür, dass Designer:innen nicht nur vorhandene Lösungen anwenden, sondern vielmehr die verborgenen Möglichkeiten und Potenziale von Materialien und Technologien “entbergen” sollten, um neue, originelle Lösungen zu entwickeln.

Für die Designforschung, insbesondere für Bereiche wie Interaction Design und somit auch des Videoconferencing, bietet das Konzept des Entbergens eine Möglichkeit, sich von konventionellen Designlösungen zu lösen und neue Wege der Gestaltung zu erkunden. Durch das Entdecken und Hervorbringen verborgener Potenziale von Materialien und Technologien können Designer:innen sinnvolle Lösungen entwickeln, die die Nutzererfahrung verbessern und neue Möglichkeiten für Interaktionen und Kommunikation schaffen. Darüber hinaus kann das Konzept des Entbergens auch dazu beitragen, ein tieferes Verständnis für die kulturellen und historischen Hintergründe von Designentscheidungen zu entwickeln. Indem Designer die verborgene Bedeutung von Materialien und Technologien erforschen, können sie auch die kulturellen und historischen Kontexte verstehen, die diese Entscheidungen beeinflusst haben.

References

Literatur

Flusser, Vilém (1989): Vom Subjekt zum Projekt: Menschwerdung. Fischer.

Heidegger, Martin (1962): Die Technik und die Kehre. Opuscula 1 Aus Wissenschaft und Dichtung. Neske.

Zielinski, Siegfried (2010): Entwerfen und Entbergen. Flusser Lectures. Vilém Flusser Archiv, Universität der Künste Berlin, Köln : Verlag Walther König

Literatur Tipp

Volmar, Axel & Olga Moskatova & Jan Distelmeyer (Eds.) (2023): Video Conferencing – Infrastructures, Practices, Aesthetics. Bielefeld: Transcript. (Erscheint im November 2023).

Download & Citation Info

Zielke, Laura (2023): Entwerfen und Entbergen: Videokonferenz als Kulturtechnik. DESIGNABILITIES Design Research Journal, (11) 2023 https://tinyurl.com/yeyrze9u ISSN 2511-6274