July 3rd, 2022

Eine größere Realität

“Wenn das Leben selbst verrückt erscheint, wer weiß, worin der Wahnsinn besteht? Vielleicht ist es Wahnsinn, zu praktisch zu sein. Träume aufzugeben — das ist vielleicht Wahnsinn. Zu viel Vernunft ist vielleicht Wahnsinn — und das Verrückteste von allem: das Leben so zu sehen, wie es ist, und nicht, wie es sein sollte!” Miguel de Cervantes Saavedras Don Quijote in Man of La Mancha von Dale Wasserman (1965) [1]

Wenn man über die Designausbildung zu einer Zeit schreibt, in der wir im Westen eine große Umgestaltung der geopolitischen Machtverhältnisse und eine Verschiebung hin zu einem nach innen gerichteten Nationalismus erleben, die Vermarktlichung scheinbar jedes Aspekts des Lebens, einschließlich der Bildung, die zunehmende ökologische Instabilität und Unsicherheit und das Auftreten erheblicher Risse in einem politischen und wirtschaftlichen System, das zwar enormen Reichtum erzeugt, aber völlig versagt hat, seine gerechte Verteilung zu gewährleisten, dann ist es schwer, optimistisch zu sein. Ich werde es dennoch versuchen.

Was ist, wenn unser Ansatz zur Design-Ausbildung falsch ist? Was, wenn die Ausbildung von Designer:innen für das Arbeiten im Rahmen der vorherrschenden wirtschaftlichen, sozialen, technologischen und politischen Realitäten – Design also an der Welt, wie sie jetzt ist auszurichten, zu einer allzu bequemen Einbildung verkommen ist? Was, wenn die Ausbildung von Designstudierenden, die darauf abzielt, jedes noch so komplexe Problem als ein zu lösendes Problem zu formulieren, wertvolle kreative und phantasievolle Energie für das Unerreichbare verschwendet. Was, wenn der Fokus der Designausbildung auf ein “Realisieren von Dingen” all jenes aufrechterhält und untermauert, was in der gegenwärtigen Realität schiefläuft, und somit dazu beiträgt, dass alle möglichen Zukünfte lediglich Extrapolationen einer dysfunktionalen Gegenwart sind?

Wenn wir für einen Moment die bewährten Ansätze der westlichen Designausbildung aufgeben würden, Ansätze, die im zwanzigsten Jahrhundert entworfen und entwickelt wurden, aber Schwierigkeiten haben, sich an die Realitäten des einundzwanzigsten Jahrhunderts anzupassen, wo würde die Suche nach Alternativen beginnen?

Für mich müsste es mit der Vorstellung von der Realität, oder genauer gesagt, dem Realen, und wie sie in der westlichen Design-Pädagogik behandelt wird, insbesondere in Bezug auf neu entstehende Technologien. Bis auf wenige Ausnahmen steht bei einem Großteil der derzeitigen Ansätze zur Designausbildung das eifrige Beharren auf Realitätsnähe im Zentrum des Interesses. Das Bestreben, möglichst realistisch zu sein. Indem wir jedoch innerhalb der bestehenden Realitäten denken, ob sozial, politisch, wirtschaftlich oder technologisch, werden die Ideen, Überzeugungen und Werte, die uns in diese schwierige Situation gebracht haben, durch Design endlos reproduziert. Doch die zugrundeliegende Logik, die die Etikettierung bestimmter Ideale, Hoffnungen und Träume als real und anderer als unwirklich vorantreibt, wird selten in Frage gestellt, was zu einer ständigen Unterdrückung gestalterischen Vorstellungskraft führt.

Wie uns die gegenwärtige geopolitische Situation klar vor Augen führt, bedeutet die Tatsache, dass etwas unmöglich ist, nicht, dass es nicht möglich ist. Vor diesem Hintergrund könnte es realitätsnäher sein, wenn die Designausbildung Designer:innen darauf vorbereitet, das zu werden, was die Schriftstellerin Ursula K. Le Guin als “Realisten einer größeren Realität” bezeichnet. Eine Realität, die die Vorstellungskraft und alles, was es noch gibt oder vielleicht nie geben wird, umfasst — das, was wir momentan eher als Unwirklichkeit begreifen.

Eine solche Ausbildung würde Designer:innen dazu ermutigen, konstruktiv unrealistisch zu sein. Dazu wäre es jedoch notwendig, neue Denkweisen anzunehmen, die mit der konventionellen Weisheit brechen und mit anderen Arten von Weisheit zu experimentieren, von denen sich vieles als kontraintuitiv herausstellen, unpopulär oder gar unangenehm anmuten könnte.
Wenn Design eines sehr gut kann, dann ist es, Ideen, Idealen, Haltungen und Sichtweisen auf die Welt greifbare Formen zu verleihen, die sich allesamt in den Dingen des alltäglichen Lebens ausdrücken. Aber die Narrative, die derzeit durch westliches Design projiziert werden, sind ziemlich entmutigend. Eine nicht von besonders großem Variantenreichtum geprägte Reihe technikzentrierter Narrative dominiert die Vorstellungskraft des westlichen Designs. Sie drückt sich in idealisierten Produkten, Dienstleistungen und Szenarien aus und konzentriert sich auf das Abfeiern des uferlosen Konsums und des technologischen Fortschritts, auf wirtschaftliches Wachstum ohne Rücksicht auf die Auswirkungen für unseren Planeten, die Menschen und andere Spezies, auf die Ausblendung des drohenden ökologischen Untergangs und auf das Versprechen einer technologisch vermittelten Form des Gruppendenkens. All dies ist derart weit verbreitet, dass es immer schwieriger wird, sich andere Möglichkeiten vorzustellen. Aber genau das ist es, was wir tun müssen – uns radikal andere Formen des Seins vorzustellen. Seinsweisen, die derzeit als unrealistisch gelten.

Komplett neue Welten werden von Schriftstellern, Filmemachern und Künstlern erdacht. Ließe sich ein solcher Ansatz nicht in die Designausbildung integrieren, so dass Designschulen zu einer Quelle alternativer Ideen und Gegennarrative werden könnten, die durch Design materialisiert werden und die zum Nachdenken anregen? Die unsere Vorstellungsgraft dahingehend beflügeln, wie Welten aussehen könnten, in denen wir leben möchten, anstatt uns eine bestimmte Zukunft gestalterisch vorzuschreiben?

Eine solche Designausbildung würde wahrscheinlich nicht mehr in unterschiedliche Disziplinen unterteilt, sondern vielleicht nach unterschiedlichen Sichtweisen auf die Welt organisiert sein. Studierende und Dozierende würden die Mechanik der Unwirklichkeit studieren, damit experimentieren und sie tiefer ergründen — Utopien, Dystopien und Heterotopien; „what ifs“ und „as ifs“; Hypothesen, Gedankenexperimente und Reductio ad absurdum; Kontrafakten und Uchronie, und so weiter. Eine Synthese von Ideen aus Politikwissenschaft, Anthropologie, Soziologie, Geschichte, Wirtschaftswissenschaft und Philosophie zu neuen Weltbildern, die durch eine erweiterte Form der Entwurfspraxis greifbar gemacht werden.

Aus heutiger Sicht mag dies unrealistisch erscheinen, vielleicht sogar ein wenig eskapistisch, weshalb ich mich abschließend noch einmal Ursula K. Le Guin zuwenden möchte, deren Antwort auf die Diffamierung hochgradig phantasievoller Arbeit als Eskapismus folgendermaßen lautet: “Die Richtung der Flucht ist die in Richtung Freiheit. Worin also besteht genau der Vorwurf am ‘Eskapismus’?”

Anthony Dunne, Juni 2020

Übersetzung: Tom Bieling. Im Original erstmals veröffentlicht in Mary. V. Mullin & Christopher Frayling (Hgs.) (2018): Fitness for What Purpose. Design Manchester / Eyewear Publishing, UK. S. 116–117. Erstveröffentlichung auf deutsch auf www.designforschung.org im Juni 2020. Wiederveröffentlichung im Juni 2022, nachdem der Beitrag im Zuge des Relaunches verlorengegangen war.

References

[1] Übersetzung Tom Bieling

Download & Citation Info

Dunne, Anthony (2020): Eine größere Realität. Überetzung: Tom Bieling. DESIGNABILITIES Design Research Journal, (06) 2020 https://tinyurl.com/2p8b2smh ISSN 2511-6274