April 3rd, 2023

95 Thesen zum Design

Aus Liebe zur Wahrheit und im Bestreben, diese zu ergründen, soll unter dem Vorsitz des ehrwürdigen Designers Harald Gründl, Magister der Künste, Doktor der Philosophie und Inhaber einer „Venia Docendi“ in Theorie und Geschichte des Designs, über die folgenden Sätze disputiert werden. Deshalb bittet er die, die nicht anwesend sein und mündlich mit uns debattieren können, dieses in Abwesenheit schriftlich zu tun. Dieser Text wurde für die Lifestyleseiten eines Printmediums verfasst und von der Chefredaktion als nicht
veröffentlichbar zurückgewiesen.

1) Design- und Lifestylegazetten zerstören die Welt. 2) Der gute Ton gemahnt, dass nicht von der Redaktion bezahlte Reisen zum Zwecke einer Reportage mit einem Hinweis gekennzeichnet werden. 3) Es handelt sich hierbei um eine Einladung von XY, wobei in den meisten Fällen auch über XY berichtet wird. 4) Compliance-Hinweis nennt sich diese rare Geste der Sichtbarmachung von erlaubter Einflussnahme auf journalistische Welt- und Weitsicht. 5) Was dem Lese- und Schaupublikum jedoch nicht sichtbar gemacht wird, ist die Weltverträglichkeit der berichteten Sache. 6) Informiertheit, aber auch Unterhaltung würde die Angabe des ökologischen Fußabdrucks beim Konsum von Lifestylegesten stiften. 7) Die Lifestylezeitung der Zukunft hilft uns beim schicken und weltverträglichen Leben.

8) Autodesign ist lächerlich und kostet Arbeitsplätze.

9) Die Blödsinnigkeit von Autoanzeigen ist sagenhaft. 10) Die Stoßstange birgt die ganze Tragödie der Menschheit. 11) Stoßstangen sind mit Hochglanzlack versehen und dürfen nirgends anstoßen. 12) Wir verbauen aufwendige und teure Sensorik in die Stoßfänger und verlieren unsere Sinne. 13) Wir rahmen die Öffnung für den Auspuff, der das Klima zerstört, mit eleganten Chromlinien ein. 14) Zigarettenwerbung ist teilweise verboten oder zumindest mit spaßverderbender Gesundheitspropaganda verunstaltet. 15) Autoanzeigen mit ihrem ganz- oder doppelseitigen Imponiergehabe sind von der Warnung vor der Zerstörung des Weltklimas verschont. 16) „Autos verpesten ihre Stadt und verursachen Lungenerkrankungen“ wäre ein möglicher Warnhinweis unter dem Inserat, in dem ein Auto einsam auf der kurvigen Küstenlandstraße dahinbraust. 17) Dass das Wohl der größten Volkswirtschaft Europas von der Aufrechterhaltung der Automobilindustrie abhängt, ist tragisch. 18) Diese Arbeitsplätze fehlen für die Produktion sinnvoller Güter. 19) Das Auto der Zukunft ist ultraleicht, modular, upgradefähig, ohne Verbrennungsmotor und wird lokal hergestellt. 20) Es ähnelt mehr dem Fahrrad als dem Panzerfahrzeug. 21) Es gehört uns nicht mehr, wir nutzen Mobilitätsangebote nach Bedarf und nicht nach Status.

22) Reisen ist das Staunen über die sukzessive Weltzerstörung.

23) Mit der Ausweitung der Freizeitgesellschaft wird das Reisen mit klimazerstörenden Verkehrsmitteln zu möglichst weit entfernten Destinationen zur Normalität. 24) Mit möglichst wenig Geld reist man möglichst weit. 25) Wenn die Fahrt zum Flughafen teurer ist als der Mittelstreckenflug, verliert die Menschheit jede Scheu, auch über das Wochenende irgendwo hinzufliegen. 26) Ablasshandel mit CO2-Zertifikaten gehört derzeit noch nicht zur Konsumreligion. 27) So lastet auch keine Schuld auf dem Kurzurlaub. 28) Die Umweltkosten werden nicht im Ticketpreis berücksichtigt. 29) Diese Kosten trägt die Weltbevölkerung, insbesondere jene in den armen Ländern. 30) Hier kommt der politische Ablasshandel in Form von Entwicklungshilfe ins Spiel. 31) Die Entwicklungshilfe­budgets werden jedoch von Jahr zu Jahr gekürzt. 32) Schließlich wollen wir im Urlaub nicht allzu viel menschliches Leid mitbekommen. 33) Es könnte unserer Erholung schaden. 34) Reisen kann in Zukunft, wer auf seiner Klimakreditkarte noch Meilen hat.

35) Häuser sind Grabsteine für tote Ideen.

36) Unsere Städte sind Friedhöfe vergangener Architekturauffassungen. 37) Architektur ist das Schaffen von Identität, Schutz und Raum für Menschen. 38) Dass Architektur dabei in ignoranter Weise noch immer zumeist fossile Energie verschwendet und unfassbare Mengen an Kohlendioxid durch Baustoffe in die Luft jagt, stellt den Entwicklungsstand der Menschheit im 21. Jahrhundert infrage. 39) Das Anbringen von Steuerpanels, mit denen sich niemand auskennt, macht die Architektur nicht intelligenter. 40) Während mit höchster Achtsamkeit Pläne für die Errichtung erstellt werden, fehlen Plan und Wille, die Gebäude auch wieder aus der Welt zu bringen und die eingesetzten Ressourcen als Ausgangspunkt für Neues zu verwenden. 41) Der Einklang mit der Natur erschöpft sich im Baum, der sich in der Glasfassade spiegelt. 42) Die vollkommene Absenz von systemischem Denken sieht man am Kühlschrank, der im überheizten Raum versucht, das Bier kühl zu halten, während draußen dieselbe Temperatur wie im Kühlschrank herrscht. 43) Trinkwasser wird direkt über die Toilette in die Kanalisation geleitet. 44) Der Stickstoff im Urin geht durch die Kläranlage und macht aus den Küstengewässern Dead Zones. 45) Stattdessen könnte Urin zur Pflanzendüngung verwendet werden. 46) Für all das gibt es bessere Lösungen. 47) Wir müssen nur auf das Angebot von „fertigen“ Lösungen verzichten. 48) Schaffen wir lokal angepasste Architektur.

49) Mode stirbt schnell und lautlos.

50) An der Mode sieht man, dass unterschiedliche Geschwindigkeiten für ein funktionierendes Gesamtsystem erforderlich sind. 51) Im Tierreich gibt es auch die Eintagsfliege und die hundertjährige Schildkröte. 52) Es gibt lebende Fossilien wie den Pfeilschwanzkrebs, ebenso auch nur kurze Episoden der Evolution. 53) Das System der unterschiedlichen Geschwindigkeiten – heute kurz, morgen lang, heute gelb, morgen grün – gehört wohl zur Logik der Mode und somit zum kreativen Betriebssystem der Menschheit. 54) Es gibt Formen, die sich nur sehr langsam bis gar nicht ändern. 55) Es gibt aber auch die schnelle Mode und ihren saisonalen Tod. 56) All das wäre kein Problem, würde die Herstellung keine Arbeitskräfte ausbeuten, Landstriche zerstören und Wasserknappheit herbeiführen. 57) T-Shirts sollten wie die Blätter der Vegetation sein. 58) Im Herbst, nach kurzer Zeit im Boden, werden sie wieder zu Humus.

59) Designausbildung ist die Lizenz zur Umweltzerstörung.

60) Dass Design gemeingefährlich ist, steht in keinem Studienführer. 61) Uninformiertheit und Verantwortungslosigkeit führen zu einer Designauffassung, die weder nach der Herkunft von Materialien noch nach deren Umweltverträglichkeit fragt. 62) Kurzsichtigkeit führt zu einer künstlerischen Geste, die das Produkt gerade mal bis zum Fabriktor begleitet. 63) Was im Gebrauch passiert, interessiert nicht. 64) Auch die Rückführung von Ressourcen wird nicht geplant. 65) Stattdessen wird Ablass in Form von Entsorgungsgebühren geleistet. 66) Diese sind so gering, dass nicht der geringste Anreiz besteht, die Produkte im Kreislauf zu halten. 67) Für die industrielle Massenproduktion zu planen, heißt, die Fabrik nur zum Zusammenbauen zu verwenden. 68) Sie wird nicht für die Reparatur oder die Rückführung von Komponenten in neue Produkte genutzt. 69) Ressourcen müssen künftig in natürlichen oder technischen Kreisläufen zirkulieren. 70) In Zukunft sollte niemand mehr eine Designuniversität verlassen, ohne das Werkzeug für eine zukunftsfähige Gestaltgebung erlernt zu haben.

71) Design dient dem Kapitalismus.

72) Es mangelt nicht an alternativen Wirtschaftsmodellen, die soziales und moralisches Wachstum unterstützen und zugleich Grenzen des wirtschaftlichen Wachstums zum Schutz der Umwelt einfordern. 73) Das Design von heute korrumpiert humanistische Werte. 74) Das Design der Zukunft dient der positiven menschlichen Entwicklung. 75) Es ist solidarisch, stützt und entwickelt die Demokratie und ihre humanistischen Werte. 76) Das Design der Zukunft dient dem Gemeinwohl.

77) Die Welt unterwirft sich dem Ritual der Konsumreligion.

78) Konsumkultur ist eine Kultur, in der das Konsumieren das Wichtigste auf der Welt ist. 79) Wir leben im globalen Norden mit dem Konsum als Religion ohne Schuldbekenntnis. 80) Leider geht sich dieser Lebensstil nicht für die gesamte Weltbevölkerung aus. 81) Dafür würden wir sieben oder mehr Erden brauchen. 82) Während andere Religionen auf einer Konzeption gründen, die metaphysische Aspekte hat, basiert die Konsumreligion auf einer beschränkten Ressource, nämlich unserer Erde. 83) Das macht das Heilsversprechen der Wegwerfkultur recht unplausibel. 84) Möge das Verschwendungs- und Zerstörungsritual langsam enden. 85) Wir brauchen ein globales Transformationsritual in eine neue Zeit.

86) Copyrights schützen nicht, sondern verhindern Kreativität.

87) Offenes Design wird die Welt eher weiterbringen als eine Rechtsauffassung, von der vor allem globale Medienmonopole profitieren. 88) Dem Schutz geistigen Eigentums folgt eine Zeit der krea­tiven Gemeingüter, die unter Nennung der Autorenschaft frei weiterentwickelt und verwendet werden können. 89) Das Ergebnis von offenem Design, freier Bearbeitung und Weiterentwicklung von Ideen führt zu Selbstermächtigung und dem Wohl der Menschen. 90) Die Menschen profitieren von drastisch reduzierten Preisen und lokaler Fertigung. 91) Der Begriff der Arbeit und der Arbeitszeit wird neu definiert und umfasst ebenso Familienarbeit als auch Eigenproduktion und die Beschäftigung mit Dingen, die uns wirklich, wirklich wichtig sind. 92) Die Entlohnung der „Neuen Arbeit“ muss neu verhandelt werden. 93) Die Diskussion über die Entlohnung findet in neuen Institutionen statt.

94) Alle Menschen sind kreativ und sozial.
95) Wir alle sind Designschaffende unserer Zukunft.


Veröffentlicht im Juni 2020 auf www.designforschung.org. Wiederveröffentlichung im April 2023, nachdem der Beitrag im Zuge des Relaunches verlorengegangen war.

In der Printausgabe des DESIGNABILITIES Design Research Journals (Themenheft 02: Design Politics), findet sich der Beitrag auf den Seiten 12 bis 19. www.designabilities.org .

References

Download & Citation Info

Gründl, Harald (2023): 95 Thesen zum Design. in: Tom Bieling (Hg.): Design Politics. DESIGNABILITIES Design Research Journal. Issue 02, 01/23. S. 12–19. https://tinyurl.com/3wmx9r85 ISSN 2940-0090